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Gegen
Handke
Die Brüder
Goncourt 2000/2003
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Alles
ist eitel. Es gibt nichts Gutes im Bösen. Die Worte sind korrumpiert,
und nichts, das sich dem entziehen könnte. An die Stelle der ersten
Natur, heißt es, jener wahren, natürlichen, wilden Natur, sei
eine zweite Natur getreten, in welcher das Artefakt der Stadt von jenem
der Landschaft nicht getrennt werden könne.
I.
Benennung der Natur
Das Einfachste wäre, man spräche vom BAUM. Doch
mit solcherlei Begriffen gerät man rasch an den Punkt, wo ein BAUM
nichts mehr besagt. Das Wort erscheint als ein Platzhalter, der sich in
den Satz fügt, ohne ihn zu belasten. Die Sprache scheint zu kompliziert
für solch einen BAUM, überdies sieht ein Text, in welchem immerfort
vom BAUM die Rede ist, nicht sonderlich gut aus.
Es können zu viele disparat verschiedene Dinge gemeint sein: der
Baum freier Wildnis ist nicht der Baum einer Stadt oder der Bonsai eines
Balkons. Es bleibt der Eindruck, dass in der Bedienung dieses konturlosen
Worts eine wichtige Schwelle, von der aus die Wahrnehmung der Dinge überhaupt
erst beginnt, ausgeschlagen wurde.
Lassen Sie mich übertreiben: ich habe die Möglichkeit, ihn als
AHORN zu bezeichnen. Ich schreibe ein Kinderbuch und sage, Kinder, das
ist ein Ahorn. Für Kinder (1) mag das angehen.
Wenn die Kinder schreiben lernen, beginnen sie, Gedichte zu verfassen
mit dem Titel „Mein Freund, der Ahorn“. Wenn sie größer
werden, haben sie von Castorbehältern gehört, lesen sozialkritische
Jugendliteratur ("Die Welle", "Rolltreppe abwärts",
"Empire") und laden den Ahorn politisch auf: „Dem Ahorn
geht es gut, wie geht es den Regenwäldern?“. AHORN eignet sich
nur bedingt zur Bezeichnung eines Baumes.
Will
man die Erkenntnis hieraus anwenden, ohne in irgendeine Form von Sozialkitsch
zu fallen (das würde die Sprachspiele der Gesellschaft ebenso bestätigen
wie der AHORN das Lächeln betulicher Jungfern), muß man sich
zuerst aller Vertraulichkeit entheben, die den AHORN, den immer Raschelnden,
zu meinem Freund macht.
Mit
einer strikteren Diktion: SPITZAHORN zum Beispiel, acer platanoides,
käme niemand mehr auf die Idee zu schreiben, „Mein Freund,
der SPITZAHORN“. „Dem ACER PLATANOIDES geht es gut, wie geht
es den SELVAE PLUVIALES?“ Mit der Freundschaft ist es damit vorbei.
Auch
hier bliebe ein unangenehmer Umstand – seine Aufmerksamkeit, die
Dinge zu betrachten, erwiese sich allzusehr als die eines fröhlichen
Wandertagsmenschen, der botanische Kenntnisse hat. Bietet sich der AHORN
zu rasch dafür an, ihn mit menschelnden (2)
Inhaltsebenen aufzuladen, die die Innigkeit von Erzähler und Natur
zementieren, so entstammt der SPITZAHORN dem Duktus jenes Bildungsbürgers,
der mit spitzen Fingern das Erbe der Aufklärung anzutreten meint.
Mag er nur deren Kataloge zitieren: jene Reihungen von Namen, die den
ACER PLATANOIDES (Spitzahorn), die TILIA PLATYPHYLLOS (Sommer-Linde),
aber auch den CAPUT MORTUUM enthalten.
Den
Abgrund hierunter zu verwerten kann durchaus erwünscht sein: den
komplexen Diskurs über die Technologisierung der europäischen
Gesellschaft, ihre umwälzende Expansion in außereuropäische
Länder, die Geschichte präziser Messungen, Gliederungen, Leitsysteme
vom aufgespießten Schmetterling bis zum erfaßten Täterschädel
literarisch aufzutun; ansonsten nimmt sich der kleine SPITZAHORN etwas
überdimensioniert aus. Für die Beschreibung eines bloßen
Ehekrachs vor der Kulisse jenes mächtigen ACER PLATANOIDES bleibt
historisch gesehen kein Raum.
Wenn man versehentlich zu genau hinschaut: jene Präzisierung, welche
falschen Allgemeinplätzen (BAUM), falschen Harmlosigkeiten (AHORN)
aus dem Weg gehen möchte, sieht sich mit überbordenden Kontexten
konfrontiert, selbst wenn sie nicht gleich das von mir skizzierte Ausmaß
annehmen muß. Es reicht, MERCEDES zu schreiben statt AUTO, um gleich
die komplette Klassenstruktur der westlichen Gesellschaft mit ins Boot
des beschriebenen Ehekrachs zu heben.
Vielleicht
sollte ich von daher wieder den BAUM ins Spiel bringen: nicht als Zeichen
meiner Indifferenz, sondern meiner Vorsicht, meiner Diskretion einem Gegenstand
gegenüber, von dem ich kaum alle Abgründe zu fassen vermag.
II.
Zwei, drei, viele Naturen
Wenn ich einen Baum bezeichne, geschieht dies im Rahmen
nicht einer wilden 'ersten', noch auch einer künstlichen 'zweiten'
Natur, sondern einer dritten – denn nicht nur ist der Baum in seiner
urbanen Umgebung zum bloßen Zitat der Natur reduziert worden, ein
Prozeß, der auch die ländliche Peripherie erfaßt hat
– mein gesamtes, urbanes Umfeld, das System der Stadt schlechthin
ist in zwei 'Naturen' auseinander gefallen: in die eine Stadt mit dem
längerem historischen Atem, welcher sie zu einer 'Ersatznatur’
gemacht hat, die sich 'authentisch’ erfahren lässt, - und in
jene andere Stadt, bzw. das Bild von ihr, das auch diese Originalität
abgestreift hat, um sie nurmehr durch die bloße Prätention
der Metropole, die Skizze einer solchen zu ersetzen. So sind nicht nur
die rauschenden Wipfel der Goethe-Zeit, sondern auch die großartigen
Stadtgebärden der Brechtzeit längst in einer Geschichte von
Faschismus und Neoliberalismus vergangen.
Die
Prätentionen immerhin, ihr unbefriedigender Ersatzcharakter, bleiben.
So
'billig’ und 'unecht’ das alles sein mag – mir steht
nichts anderes zur Verfügung. Ich bin auf eine Sprache angewiesen,
die gefälschte Blüten trägt. Blüten können hübsch
sein: ihr Scheincharakter kann eine Komik entfachen, die eine Ahnung von
Poesie aufkommen läßt – nicht eines Sinns, der sich hinter
den Wörtern verbergen, sondern mit dem sie angereichert werden können.
Der gelogenen Realität möge man die Realität der Lüge
abtrotzen, um wenigstens auf diese Spur der Wirklichkeit zu stoßen.
Warum nicht die 'Ware lächeln machen'? Die Chimären solange
verschieben, verschränken, bis sich darin eine neue Epik ergibt,
knapp in der Schwebe gleitend, als läge in der Flüchtigkeit
ihr größtes Bleiberecht. Es hieße der Phantasmagorie
von Sprache eine wirkliche Sprache abzutrotzen, ihr zu geben, was sie
von mir nicht annehmen will: mich.
Oder nicht mich. Sondern das, was mich unterhalb von Institutionen und
Feuilletons zu einem sprechenden Knoten macht in der Navigation von Sprache
– denn jedes Gefühl, das ich ausdrücken könnte, jede
Definition meiner Selbst würde erst greifbar als Koordinate gesellschaftlichen
Seins.
III.
Back to the roots?
Handke
scheint bei der Feststellung stehenzubleiben, dass alles falsch sei, 'alles
eitel’, dass
sämtliche Unwahrheiten der Welt darauf abzielten,
ihm sein Recht auf die"wahre Empfindung"(3),
das 'wahre Selbst' zu nehmen. Statt sich daran zu machen, die Unwahrheiten
zu verwerten - wahr zu machen, zu verändern, sie sich zu unterwerfen,
ohne Ausflucht zu verjährten 'Elementar-' oder 'Ur-Wörtern'
zu nehmen, die ihn doch nur mit umso schalerer Falschheit wieder ins Netz
ziehen.
Für ein wie auch immer und wann auch immer existentes 'wahres Selbst'
(geht es um das Selbst?) muß man sich von der Anmaßung lossagen,
es FREILEGEN zu wollen – es steckt darin – sprachlich betrachtet
– die Illusion angeblicher 'Grundwörter', die aus den verschiedenen
Sprechweisen im Alltag nur wieder destilliert werden müssten, um
eine gültige, ihr wahres Selbst enthüllende Sprache zu sprechen.
Es gibt jedoch nichts freizulegen, nur neu zu konstruieren.
IV.
Schluß
Grundwörter, Grundformen: mein 'wahres Selbst' wäre
jener Grundform synonym, in der ich mich zu 'erkennen' gebe, nur ist diese
Grundform keine Grund-Form, Ursprungs-Form, sondern selbst bloß
Synthese aus zahllosen Verstrüppungen von Wörtern und Attitüden
meiner Zeit: es ist die schlichte, auf einen Nenner gebrachte Form (4)
– und da ihre Schlichtheit Artefakt ist, muß sie neu definiert
werden: nicht hölderlinsche Erhabenheit ist schlicht, sondern das
von Phrasen durchzogene Gestottere einer nervösen Fernsehansagerin,
die zum ersten Mal moderiert; schlicht sind Wörter wie „Einkommenssteuersatz“,
„Zahnersatzforderung“, „Beschwerdestelle“–
oder, tatsächlich, Grundwörter wie „Plattenspieler“,
„Rechner“, „Kassette“, die man nicht als Erbe
uralter, evolutionärer Verschiebungen, sondern als Nacktheiten begreift:
als das Fragile, Sperrige, Karge, das gerade noch als Bindewort den Satz
füllt, um die Rede nicht unbeholfen aussetzen zu lassen.
Die dritte Natur, die nur in Bewegung gehalten wird, um das Naturlose
unter ihr zu überbrücken – das hastige Imitieren von Tiefe,
Identität, Gehalt – das alles ist Natur, und alles Elementare
gleicht allenfalls einer ausgefüllten Kreisfläche, mit welcher
man ein schwarzes Loch malt.
Man
kann dieses 'Loch' als Existenzform beschreiben: so verstehe ich Sprache.
(1) (ZURÜCK)
(Wie
benennt man eigentlich Kinder?)
(2) (ZURÜCK)
Als
wichtiger Bruch in der europäischen Geistesgeschichte scheint gerade
jene Zäsur auf, mit welcher ein neuer Blick an die Dinge herantritt.
Wird im mittelalterlichen "Physiologus" noch jede Eigenschaft
der Tier- und Pflanzenwelt zurechtgebogen, bis sie sich in ein phantastisch-religiöses
Modell einpaßt, führt die neuzeitliche Betrachtung einen strenge
Form der 'Kritik' ein: der Betrachtende hat sich seinem Gegenstand gegenüber
neutral zu verhalten und Einzelheit von Einzelheit zu trennen. Jegliche
Interpretation basiert fortan auf dieser evidenten Fremdheit, die zum
distinguierten Grundcharakter europäischer Museen wurde. (Vgl.
auch "http://www.goncourt.net/tagebuch/weinrich.php")
(3)
(ZURÜCK)
Handke
ist ganz ein Autor der Moderne, bei welchem vieles komplizierter und widersprüchlicher
ist, als in diesem Essay dargelegt. Es gibt immer wieder Stellen, wo er
diese Ambivalenz eindrucksvoll zum Tragen bringt, gerade in seinem Roman
"Die Stunde der wahren Empfindung", worin Wahrheit von vorneherein
als Konstrukt erfahrbar wird. Die Wende folgt eher mit Büchern wie
"Die Lehre der Sainte-Victoire", in welchen seine Sprache zunehmend
verklausuliert und letztlich religiös wird. Er zitiert Grillparzer:
"Ich zitterte vor Begierde nach dem Zusammenhange", er schreitet
die Straßen Berlins ab, um in deren unterirdischen Tektonik ihre
innere Wahrheit zu ertasten, eine Stelle, an welcher er sich durchaus
der Konstruktion bewußt bleibt. Aber er bejaht zugleich den Glauben
an eine evolutionäre Substanz, den ich nicht teilen kann. Müssen
wir uns das Pflaster der Moderne wegdenken, um 'saubere Welterfahrungen'
zu bekommen? (Vgl. "Die Lehre
der Sainte-Victoire", Fkft./M. 1982, S.78 [Grillparzer-Zitat], S.
74ff.[Berlin-Spaziergang])
(4)
(ZURÜCK)
Den Dingen ihre 'Naivität' oder 'Schlichtheit' zurückzugeben
meint nicht wirkliche Naivität, Schlichtheit, im Sinne von: Unbeflecktheit,
Grundform usw. Es heißt, ihnen ihre Inferiorität wiederzugeben,
ihre Übermacht zu nehmen. 'Opfer' - ihrer Zeitlichkeit, ihrer Gegenständlichkeit
- sind sie geradeso wie der, der sie benutzt, denn auch sie werden gehandelt,
um nicht zu sagen, verramscht.
(http://www.goncourt.net/handkeprint.htm) |