
[Ich habe die Ärmel meines Hemdes aufgekrempelt, wie ich es selten mache: zweimal umgeschlagen, wie die Angestellten in den Filmen, Lou Grant, Jack Lemmon, Lino Ventura. Das kam mir früher immer ein wenig vor wie die Schwimmflügel von Kindern (ich hatte sehr dünne Arme: vielleicht gehört das zum Älterwerden, dass man in Hemden hineinwächst). Inzwischen habe ich schwimmen gelernt, schwimme morgens im Gleichstrom mit anderen Angestellten, Passanten, Pendlern, die nicht mehr aussehen wie Lou Grant, Jack Lemmon, Lino Ventura, nicht mehr übernächtigt von den Geschäften der Metropole, sondern verschlafen wie ich; es begegnen sich die, die die Nacht beenden und die, die den Tag beginnen.]



[Tage der Arbeit, Tage des Festes. Dolce e chiara è la notte e senza vento (mild und klar ist die Nacht, und ohne Wind), — Leopardis Gedicht La sera del dí di festa hat mir geholfen, einen Zugang zu Leopardi zu finden, weil es mich an Abende im Dorf meiner Großeltern erinnerte: Abende, als die Städter, oder Expats wie mein Vater, zum Dorffest zurückkehrten, in ihren guten Hemden und festlichen Kleidern, in denen sie den Bruch mit der campagna vollzogen: die kurze Rückkehr von der Arbeit in der Fabrik oder im Büro — obwohl aus heutiger Sicht vielleicht erst ihre Kinder diesen Bruch vollziehen würden: die damals noch wie im Gedicht Leopardis hinter dem Fenster standen, fern vom Erwachsensein & hilflos zusehend, wie der Festtag wieder verging. Ecco è fuggito / il dí festivo, ed al festivo il giorno / volgar succede, e se ne porta il tempo / ogni umano accidente (Schon ist der Festtag vergangen, und auf den Festtag / folgt der Werktag, und die Zeit trägt alles Menschengeschehen / mit sich davon).]

[Am Anfang von «Der Maulwurf» läuft Ventura, ein Finanzier, aus seinem Büro, an der Vorzimmerdame vorbei, hinunter auf die Straße, dann auf sein Auto zu: Während er knapp in mehrere Richtungen grüßt, zieht er sich den seriösen Mantel über, der Teil ist dieses Berufergreifens, Ärmel-Hochkrempelns, Gewichtigseins, — der Sekretärin Zunicken, mehr schweigen als grüßen, ins Auto steigen. Diese Szene von Venturas Weg zum Wagen ist relativ lang: Ich stelle mir vor, wie er es als Schauspieler ausblendet, von den Kameras, dem Regisseur, den Beleuchtern, den Passanten beobachtet zu werden, während seine Figur das Gewicht der Welt und des Geschäftslebens zum Wagenschlag seines Autos führt und einsteigt.]







[Les ouvriers allant au club, tout en fumant / Leur brûle-gueule au nez des agents de police (Verlaine, La bonne chanson XVI) Mein Vater arbeitete in den siebziger Jahren als Kellner, bevor er später ein eigenes Lokal aufmachte. In den ersten Jahren trug er noch Fliege und krempelte im Kantinenraum beim Rauchen seine Ärmel auf. Er und seine Kollegen beschlossen den Feierabend damit, durch Dortmunder Nachtlokale zu ziehen, vielleicht kannten sie den Film I magliari von Francesco Rosi, über den Versuch von Italienern, in Hannover zu leben; vielleicht gingen sie auch nur ins Bahnhofskino. Irgendwann sind sie nachts spontan im Auto nach Paris gefahren, nicht nüchtern, wie in den französischen Filmen, deren Schauspieler italienische Namen hatten und aussahen wie sie. — Am nächsten Morgen streiften sie durch die Straßen der Quartiers, wo die letzten Cafés schlossen. Dann kehrten sie zurück, drei Kellner auf dem Weg zur Arbeit.]


Ah, il vecchio autobus delle sette, fermo
al capolinea di Rebibbia, tra due
baracche, un piccolo grattacielo, solo
nel sapore del gelo o dell’afa…
Ach, der alte Bus um sieben, stehend
an der Endstation Rebibbia, zwischen zwei
Baracken, einem kleinen Wolkenkratzer,
im Duft des Frosts oder der Schwüle
[Pier Paolo Pasolini, La ricchezza, in ders., La religione del mio tempo, Mailand 1961, S. 19]


[Angestellte gehen zur Arbeit, Arbeiter*innen gehen zur Arbeit, Kellner*innen kommen von der Arbeit, Portiers und Portieusen kommen von der Arbeit, Putzfrauen kommen von, Putzmänner gehen zur Arbeit, Scrummaster*innen gehen zur Arbeit, Kapitän*innen segeln zur Arbeit, Aquarist*innen schwimmen zur Arbeit, Uhrmacher*innen schauen auf die Uhr auf dem Weg zur Arbeit, Taxifahrer*innen fahren andere zur Arbeit, Finanziers und Finanzieusen fahren zur Arbeit, Schüler*innen gehen zur Schule, Student*innen gehen zur Lesung, allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaftler*innen kommen von der Arbeit, Gemüsehändler*innen gehen zur Arbeit, Qualitätsmanager*innen des Nachtlebens kommen von der Arbeit, Qualitätsfachleute des Taglebens gehen zur Arbeit, Tänzer*innen kommen von der Arbeit, Eltern bringen ihre Kinder in den Kindergarten, Rentner*innen bringen ihre Enkel in den Park, Dompröbste bringen Weihwasser in die Kirche, Clochards bringen ihre Decken an geschützte Orte, Bahnfahrer*innen lösen Kolleg*innen ab, Plakatierer*innen lösen Plakate ab, Schornsteinfeger*innen fahren zu Schornsteinen, Maurer*innen fahren zu Gemäuern, Polizeiwagen schalten die Sirenen an, Sanitätswagen schalten das Blaulicht an, Pfleger*innen der Nachtschicht schreiben in die Doku, Pfleger*innen der Frühschicht lesen die Doku, Müllleute räumen die Straßen frei für die Arbeit, Närr*innen fahren ihre Mottowagen in Stellung, Pendler*innen verpassen ihre Bahnen.]

