Magisterabschlußfeier
Man hatte mich einmal im Überschwang beschimpft, weil ich behauptet hatte, die Universität von Bochum sei schöner als die von Frankfurt. Ich hatte dies nur aus Provokation gesagt, im Grunde sehen beide gleich aus. Beiden jedoch liegt eine moderne Schlichtheit zugrunde, die ich der Verschnörkeltheit universitärer Barockschlößchen mit sauber gekleideten Passanten jederzeit weit vorziehen würde.
Ein Freund von uns (S., Du kennst ihn, der mit der phantastischen Arbeit über das Gewerkschaftskino), sollte sein Zeugnis erhalten. Der Hörsaal war mäßig gefüllt, Kollegen, Angehörige, Studenten. Das Licht stand über den aufgeklappten und zerschabten Tischen. Der Moderator, ein Professor der Archäologie in ebenso zerschabtem Anzug, faßte seine Rede in Beflissenheit, als stünde die Verleihung eines Kulturpreises an. Das Auditorium blickte souverän hinab zur Bühne.
Die beiden Musiker, die gleich zu Anfang hinunter gingen, waren ein Paar. Der junge Mann setzte sich ans Keyboard, hinter ihm zwei Lautsprecher auf dünnen Ständern und die Kabel, durch die die Lautsprecher mit dem Keyboard verbunden waren. Die Sängerin hielt ein schnurloses Mikrophon vor sich, während sie die andere Hand auf ihrem Schlüsselbein ruhen ließ.
Sie eröffneten die Feier mit "Take A Look At Me Now", gesungen wie von Mariah Carey höchstpersönlich. S., der in der ersten Reihe saß (in einigen Augenblicken sollte er sein Abschlußthema vorstellen) hatte mit Mariah Carey so gar nichts am Hut. Die Sängerin sah phantastisch aus, ihre Stimme war phantastisch und konnte sich ohne weiteres in eine Hundertschaft ähnlich phantastischer Stimmen phantastisch aussehender Sängerinnen einordnen lassen. Ihr Freund konzentrierte sich derweil auf die Tasten und zauberte einige Schlenker. Auf den Gesichtern in den Sitzreihen dominierte Nüchternheit.
In ein Waschbecken, das gleich neben dem Eingang hing, hatte jemand Blumensträuße gestopft, die an die nachfolgenden Redner zu verabreichen waren. Ein Keyboard-Kabel steckte in der Steckdose darunter. Der Archäologie-Professor schlug ein Bein über das andere. Eine ältere Frau, vielleicht die Mutter eines der Honorierten, faßte sich ans Herz und legte den Kopf zur Seite. Auf der Tafel, zwischen den schlecht ausgewischten Kreideschlieren, waren Reste mathematischer Formeln erkennbar, auch ein paar physikalische Modellskizzen: manche mit Schwung dahingeworfen, in der Handschrift von jemand, der nicht zauderte, wenn es darum ging, das komplexe Weltverständnis, das in diesen Formeln lag, auf die Lesbarkeit ihrer Buchstaben zu reduzieren.
Die abgeklärten Blicke des Publikums, der Honoratioren, der Veranstalter ließen keinen Zweifel, daß hier alles an seinem Platz war. Niemand hätte die Veranstaltung unterlaufen mögen, die Musiker um Einhalt bittend. Das Kabel, das als scharfe, verknäuelte Linie vom Keyboard aus, unter der Tafel entlang, am Tisch vorbei, zur anderen Seite in die Steckdose führte, knapp unter die Blumen, stach ebenso hervor wie diese Bukets – und wie der Gesang; Kabel, Gesang, Blumen wie die Rede eines folgenden Referenten, der mit dünner Stimme und vielen Gesten sein Thema referierte (nein, nicht S., der kam später), eine große Unbeholfenheit, um Revolutionen, Weltverschiebungen, Zäsuren zu erklären; das alles durchkreuzte den Saal mit Trivialitäten, sie durchsetzten, was die Physik zusammengehalten haben mochte , und stellten am Ende doch eine völlig glaubwürdige Bühne her.
Die Lamellen, die die Wände überzogen, nahm ich nur noch isoliert voneinander wahr, Streifen um Streifen. Es gibt ein Video von Mariah Carey, in dem sie sich auf Kanonen filmen läßt, hinter ihr die Streifen der amerikanischen Flagge und davor sie, mit ihrer melancholischen Molligkeit und ihren Charmbracelets 'cause we shared the lolly pops and the pain. Die beiden ältlichen Herren, die ein paar Plätze entfernt von mir saßen and even shared the tears, hielt ich für Professoren oder zumindest Dozenten, die, wenn sie nach Hause gingen, CDs von Reinhard Mey oder Hannes Wader oder André Rieu einlegen würden, Toskana-Wein in großen mundgeblasenen Gläsern neben sich, die sie beim Anstreichen studentischer Geschichtsklausur-Fehler zu Munde führen. Dass jedoch auch Fehlfärbungen in den Tiefen ihres Gesöffs zu dessen Abrundung beitragen konnten, war ihnen sicherlich bekannt. So take a look at me now / 'cause there's just an empty space. / There's nothing left to remind me, / just the memory of your face.
Das Kabel, das zwischen den Füßen lag, die Blumen, der Gesang interessierte das versammelte Auditorium nicht die Bohne, seiner eigenen, gekonnt unausgesprochenen Kulturhoheit gewiß — doch was, wenn nicht diese hilflosen Überdeutlichkeiten, die an 1:1-Präzision jeden Spiegel überboten – you're the only one who really knew me at all, hätte die stabile Eintracht dieser Veranstaltung gewährleisten können? That's what I've gotta face.