Drei Lektionen der Dauer
I. Video
Ein Ingenieur aus Bengalen, der seit bald fünfzig Jahren in Deutschland lebt,
zeigte mir das Urlaubsvideo seines hier geborenen älteren
Sohnes, 240 Minuten, die vom Anfang bis zum Ende verwackelt waren. Der
Sohn hatte
im Sommer halb Indien bereist, die Kamera stets lose in der Hand – oft
schien er schlicht vergessen zu haben, sie auszuschalten
– es zuckten Bilder von Straßen vorbei, von Rädern, von
Kronkorken auf dem Boden, von Händen, die in die Totale schossen
mit Gesten, die zu schnell ausgeblendet wurden, um verständlich
zu sein.
Einmal stellte der Reisende die Kamera fest auf den Boden. Man sah von
nun an einen Badestrand mit untergehender Sonne. Zwanzig Minuten lang regte
sich nichts als ein paar Badegäste, als Vögel, die irgendwo vorbeihuschten,
als die Wellen des Meeres. Ich schlug dem
Vater vor, den Film weiterzuspulen, doch er wollte
nicht. Wir folgten der Sonne mit den Augen und schwiegen.
II. Leinwand
Es gibt einen Film von John Cage, der in nichts anderem besteht als in der Beobachtung einer weißen Leinwand. Die Lichtverhältnisse darauf gleichen einer Zugfahrt, sie verändern sich fortlaufend und unwesentlich, ebenso untermalen die Streicher eines Orchesters das Bild – wie zu Beginn eines Konzerts, wenn die Instrumente gestimmt werden, nur langsamer. Der Film hat die Dauer eines Spielfilms. Das kleine Kino, in dem wir saßen, war nie sonderlich besetzt; nur an diesem Abend hatten sich viele eingefunden, wer weiß, was sie sich davon erhofften. Vor mir nahm eine Seniorengruppe Platz und exakt vor mir eine ältere Dame mit riesigem Hut mit Blumen. Neunzig Minuten saß sie unbeweglich da, hoch aufgerichtet, mit ihrem Hut. Die andern Zuschauer begannen spätestens nach einer Viertelstunde, in der weiter nichts geschah, sich unbefangen zu unterhalten, der alles grundierende Orchesterton lud ja dazu ein. Die alte Frau aber sprach nichts. Ein einziges Mal, womöglich in der sechsundsechzigsten Minute, ruckelte ihr Hut zur Seite.
III. Sendeschluss
In der Zeit, da ich nachts nicht schlafen konnte, ließ ich den Fernseher neben mir herlaufen, während ich las. Die beiden Sender, die zu öffentlich-rechtlich waren, als dass sie auf Billigserien, Verkaufssendungen und Pornoreklamen hätten zurückgreifen können, zeigten Aufnahmen aus Straßenbahnen, Autos und Zügen, die irgendwo, in kaum auszumachenden Gegenden, entlangfuhren. Während im Parallelsender noch ein Radioprogramm als Untermalung miteingespielt wurde, verharrte dieser in Askese: man lauschte dem Poltern der Räder.
Ich war nie auch nur in der Lage, länger als zwei Sekunden auf diese Bilder zu starren, mit Ausnahme eines einzigen Mals: als der Zug in einen der längsten Tunnel Europas einfuhr und das Bild für fast die gesamte Länge des Films schwarz war. Zwei Unterbrechungen gab es, als der Zug kurz wieder ans Licht trat, doch nur, um in den nächsten Tunnel zu tauchen. Die längste Sequenz dauerte 45 Minuten, zugleich hatte man, laut einer Einblendung in der unteren Zeile, den Film aufgrund seiner Länge gekürzt.
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Um mich kurz fassen: von alldem habe ich nichts gelernt. Ich kaschiere mit kleinen Anekdoten, dass ich eine Reise hätte aufnehmen mögen, per Flug, mit der Bahn oder zufuß, Zäsuren setzend, nicht fliehend –
Es gelang mir kaum, mich auszublenden: am Ende saß ich, offenen Blickes, reglos da.