Wikipedia und die Gültigkeit des Wissens
Zweifellos ist Wikipedia ein faszinierendes
Projekt. Im Gegensatz zum klassischen
enzyklopädischen Wissen, das aus seinen revolutionären Anfängen
heraus in eine kaum hinterfragte Institution des Bürgertums mutierte,
deren konkrete Autorschaft sich gottgleich unter einem Siegel des Schweigens
verbarg, bietet dieses Projekt die Möglichkeit, die demokratische Aufbereitung
eines diskutierbaren Wissens zu bieten.
Jeder kann Artikel schreiben, jeder kann jeden Artikel bearbeiten, jeder kann
jede Bearbeitung wieder zurücknehmen. Man kann als anonymer Gast in das
komplizierte Gefüge einer Kurzdarstellung der Neutronenbombe eingreifen
und behaupten, ihr Brennstoff bestünde aus Sahne. Eine Redaktion beschränkt
sich darauf, Schwachstellen mitzuteilen, in Diskussionen, die jederzeit mit
einem Artikel verlinkt sind.
Einiges ist möglich:
- daß Artikel über Themen verfaßt werden, die
sonst kaum in die Lexika gelangen.
- daß durch die einfache Setzung von Links Artikel erzeugt
werden können, deren Definitionen noch zu schreiben sind.
- daß man anhand der Qualität der Artikel, ihres Vorhandenseins,
der impliziten Wertungen wie der Assoziationen, anhand von Statistiken der
geschriebenen wie der nicht geschriebenen Artikel eine Bestandsaufnahme des
verbreiteten Wissens der Gesellschaft vornehmen kann.
Jede Änderung bleibt dokumentiert und umkehrbar, das ist das Wichtigste
und auch das Merkwürdigste. Denn daß hier unter der Oberfläche
genormter Formulierungen eine Diskussion stattfindet, die die definierten Begriffe
doch verändert, sich zugleich jegliche Veränderung via Mausklick
einfach streichen läßt, steht in einem seltsamen Widerspruch zueinander.
Hier erweist sich die Schwäche der Wikipedia:
Ihre Oberfläche, die sich sachlich gibt, apodiktisch wie nur das Wort
der Enzyklopädisten, versiegelt am Schluß: als hätte es niemals
irgendeine Skepsis gegeben bezüglich ’objektiven‘ Wissens, das sich als
Stand der Dinge formuliert. Wikipedia entfacht eine Diskussion über die
Gültigkeit des Wissens (niemand wird hier „in den Autoritäten“ nachschlagen
können), zugleich aber verheimlicht sie diese. Autoren, die einander deutlich
widersprechen, verschwinden im seriösen Fluss der Texte, die gleichsam
von niemand zu stammen scheinen als von der Wissenschaft selbst. Wo es darum
gehen müßte, Brüche offenzulegen, Auseinandersetzungen, Veränderungen,
fügt sich alles in die Geschliffenheit gefaßten, definitorischen
Stils.
SUNGLASSES
Der Unterschied zwischen der Anonymität
eines Schauspielers und der eines anderen im Produktionsprozess eines Films,
sagen wir, eines Kostümbildners, eines Beleuchters, eines Dekorateurs,
besteht nicht zufällig darin, dass ersterer von einem deutlichen Namen,
der ihn ersetzt, verdeckt wird.
Während Schauspieler wie Dekorateur damit beschäftigt
sind, den Blick des Zuschauers auf die Geschichte hin- und, darunter, von der
physischen Realität des Gezeigten abzuwenden, tut der Schauspieler dies
in ungeschützter Form, indem er sich als Projektionswand zur Verfügung
stellt.
Der Dekorateur, der Kostümbildner, der Kameramann, der Beleuchter geben
ihm und den Dingen die Kleider, die das Bild strukturieren, sie 'entbeinen'
das Bild seiner Gerüste, mithin seines Leibs. Der Dekorateur, der Kameramann,
der Beleuchter bleiben auch im Anonymen Schöpfer, graue Eminenzen, die
die Spuren zu sich verwischt haben; der Schauspieler dagegen versucht, mit der
Überheblichkeit eines Stars die Wunden
zu kaschieren, die der Zuschauer ihm geschlagen hat. Es gilt, dem Blick standzuhalten,
der ihn zu den Kleidern schlägt, den Kleidern standzuhalten.