KONVENTIONEN
Man stelle sich einen Menschen in der Masse
vor, der sich so gleichförmig in ihr bewegt, dass man in seiner Gegenwart
den Eindruck hat, aus dem Zentrum der Masse verdrängt zu werden. Die eigentliche
Konvention trägt ihre Dialektik in sich: in ihrer Vollendung, ihrer radikalen
Verwechselbarkeit ist sie unverwechselbar. Man denke an Straßenbahnkontrolleure
in Zivil: „so durchschnittlich, dass man sie nicht übersehen kann“
– was das heißt, weiß man, wenn man mit ihnen zu tun hat…
Die Masse Mensch dient bei Edgar Allen
Poe und E.T.A. Hoffmann als Signum
der Austauschbarkeit. Hoffmanns „Automate“ glänzt durch eine
Reibungslosigkeit des Handelns, die als 'leblos' empfunden wird (wobei dieses
Attribut oft an die Stelle von 'tot' tritt: es verweigert sich ebenso den POMPES
FUNEBRES wie der Erkenntnis, dass, was tot ist, gelebt haben muß). Don
Siegel’s „Body Snatcher's“ steht unter diesem Zeichen: die Menschen
werden durch ihre geschliffensten Kopien ersetzt, und jene, die übrigbleiben,
wissen das eigenartige Verhalten ihrer Freunde nicht recht zu beschreiben.
Nicht umsonst ist der Gangsterfilm ein geeignetes Spielfeld der Konvention,
steht ihm doch hierfür die Metapher des tödlichen Schusses zur Verfügung:
zum Gangster einer bestimmten Sorte Film gehört der graue Mantel, das Fehlen
einer Identität, die Mechanik einer Geste und das Untertauchen in der Masse.
Die kalkulierte 'Leblosigkeit' seines Verhaltens bedingt den Tod seines Opfers.
Was wäre nun, wenn man die Klischees beiseite
ließe, auf eine Pointierung durch die Schusswaffe verzichtete und von
der Darstellung der Konvention zu deren Verwirklichung überginge? Es hieße,
die Konvention festzuschreiben, den Gangsterfilm seines Todes zu berauben.
Es hieße, einem Straßenbahnkontrolleur zu begegnen, dessen Anwesenheit
deutlich zu spüren ist – wie die Des HErrn in den alten Schriften
– ohne dass er jemandem die Karte abverlangte. Der Fahrgast stiege aus
der Bahn, ein Stück lebloser als sonst, ohne dass er wüsste, warum.
DER SCHAUSPIELER SCHWEIGT
Ein Schauspieler, der in einem Film eine Rolle verkörpert, übt eine
mitunter passive Kunst aus, die nur darin zu bestehen scheint, engagiert zu
werden. Von Humphrey Bogart wird erzählt, er sei einmal gebeten worden,
auf den Balkon zu gehen und sich eine Zigarette anzuzünden. Er tat dies;
ein Bild von wenigen Sekunden, das Feuer flammte auf, erlosch.
Was der Schauspieler verkörpert, ist ein Schnittpunkt aus Produktionsbedingungen,
aus Regieanweisungen, Kostüm, unbedeutenden, knappen Sätzen und schlichten Vorgaben,
die ihm die Selbstständigkeit seines 'Werks' absprechen könnten,
würde man dieses 'Werk' im herkömmlichen Sinn verstehen.
Er fügt sich einem übermächtigen Kollektiv und hat nichts als seinen
Körper, mit dem er sich zur Geltung bringen kann.
Es gibt Schauspieler, die genau darin, sich zu fügen,
es schaffen, dem im Plakat angekündigten Film einen zweiten, stillen, geheimen
Film zu unterlegen, der als eigentliche Erinnerung in den Köpfen der Zuschauer
präsent bleibt, und in welchem sie Regie führen. Vollendete Relativität:
Maßstab ist, wer sich als Subjekt begreift. Als Subjekt sich zu begreifen
in einem Arbeitsprozeß, der ihn nur als Objekt will – als Schnittstelle
für ein dünnes Drehbuch, als bloßes Gesicht,
auf das ein Regisseur seine Meriten einschreiben kann – erfordert die Bereitschaft,
den Widerspruch zu tragen, den passiven Status, zu dem man verdammt ist,
zum eigentlichen Kunstwerk zu gestalten: das Gesicht zu beherrschen,
es in höchster Aufmerksamkeit still und schlicht zu halten,
bis nichts mehr daraus gekürzt werden kann und jedes Dekor verblasst,
es sei denn, man streicht es ganz.
Was verkörpert der Schauspieler? Er verkörpert die Autonomie:
die des Körpers, die des Gesichts als einer nicht reduzierbaren
Tatsache. Er bringt den wichtigsten Aspekt eines Films auf den Punkt: die physische
Realität einer Produktion, ohne die die Fiktion des Filmes nicht möglich
ist.