POESIE UND ALITALIA

Meine Vorstellung von Poesie ist wahrscheinlich eine resignative. Doch ist eine solche Resignation, die wie eine hegelsche Geschichtsepoche ihr eigenes Ende in sich trägt, keine fatalistische. Sie besteht im freimütigen Anerkennen der Sinnlosigkeit, im Fortwerfen unnötiger Ballaste, damit in einem Neuanfang.

Mein Bruder und ich brachten einen Freund zum Flughafen. Seine Eltern begleiteten uns; als er hinter den Schranken verschwand, hofften sie, auf der Besucherterrasse noch etwas von ihm sehen zu können. Gleichgültig, wie illusorisch dies war: wir passierten eine Kabine, in der ein Beamter Eintritt verlangte. Der schüchterne Vater fragte erstaunt: Zwei Mark fünfzig für nur zwei Minuten? Ach was. — Wir gingen einfach an dem Beamten vorbei.

Ich beugte mich über die Brüstung und schaute auf einen Bus, aus welchem die geladenen Passagiere ausstiegen: wie herbstliche Blätter fielen Geschäftsleute heraus, mit flatternden Krawatten, in dunklen Farben.
Dann etwas, was veranschaulichen könnte, was ich oben meinte: während in diesiger Ferne Flugzeuge über die Bahnen rollten und sich die Vorstellung, irgendeinen Passagier noch erkennen zu können, bereits erledigt hatte, stand ein großer, bullig gewachsener Mann am Geländer, ein Italiener mit einem bunten Strickpullover und einer 'Repubblica' unter dem Arm, der mir auf Anhieb sympathisch war, weil er, offenbar zärtlich veranlagt, in ein Stofftaschentuch schluchzte, während er die 'Alitalia' davongleiten sah. Dass er jenes abstrakte Bild der winzigen Maschinen und Lichter noch in Verbindung mit den in ihnen Sitzenden brachte, dass ihn diese linierte Weite traurig machte, ist Poesie.

Logfiles Zurück Weiter Goncourt's Flucht nach draußen

KONVENTIONEN

Man stelle sich einen Menschen in der Masse vor, der sich so gleichförmig in ihr bewegt, dass man in seiner Gegenwart den Eindruck hat, aus dem Zentrum der Masse verdrängt zu werden. Die eigentliche Konvention trägt ihre Dialektik in sich: in ihrer Vollendung, ihrer radikalen Verwechselbarkeit ist sie unverwechselbar. Man denke an Straßenbahnkontrolleure in Zivil: „so durchschnittlich, dass man sie nicht übersehen kann“ – was das heißt, weiß man, wenn man mit ihnen zu tun hat…

Die Masse Mensch dient bei Edgar Allen Poe und E.T.A. Hoffmann als Signum der Austauschbarkeit. Hoffmanns „Automate“ glänzt durch eine Reibungslosigkeit des Handelns, die als 'leblos' empfunden wird (wobei dieses Attribut oft an die Stelle von 'tot' tritt: es verweigert sich ebenso den POMPES FUNEBRES wie der Erkenntnis, dass, was tot ist, gelebt haben muß). Don Siegel’s „Body Snatcher's“ steht unter diesem Zeichen: die Menschen werden durch ihre geschliffensten Kopien ersetzt, und jene, die übrigbleiben, wissen das eigenartige Verhalten ihrer Freunde nicht recht zu beschreiben.

Nicht umsonst ist der Gangsterfilm ein geeignetes Spielfeld der Konvention, steht ihm doch hierfür die Metapher des tödlichen Schusses zur Verfügung: zum Gangster einer bestimmten Sorte Film gehört der graue Mantel, das Fehlen einer Identität, die Mechanik einer Geste und das Untertauchen in der Masse. Die kalkulierte 'Leblosigkeit' seines Verhaltens bedingt den Tod seines Opfers.

Was wäre nun, wenn man die Klischees beiseite ließe, auf eine Pointierung durch die Schusswaffe verzichtete und von der Darstellung der Konvention zu deren Verwirklichung überginge? Es hieße, die Konvention festzuschreiben, den Gangsterfilm seines Todes zu berauben.

Es hieße, einem Straßenbahnkontrolleur zu begegnen, dessen Anwesenheit deutlich zu spüren ist – wie die Des HErrn in den alten Schriften – ohne dass er jemandem die Karte abverlangte. Der Fahrgast stiege aus der Bahn, ein Stück lebloser als sonst, ohne dass er wüsste, warum.