Bild einer Menschenmenge in New York

THEOREM

Man hätte die Frau sprechen müssen, die eine Zeitlang älteste Frau der Welt war. Sie lebte in Arles, in ihrer Jugend hatte sie Bleistifte verkauft; und was immer sie im Alter erzählt haben mag, sie hatte Arles zur Zeit van Goghs gesehen und möglicherweise, ohne ihn zu kennen, den Maler selbst.
Man müsste diese Frau als Theorem der Geschichte fassen: sie mag den Maler, einen der Väter der Moderne, mit eigenen Augen gesehen haben, zu einem Zeitpunkt, da er vollkommen anonym war. Sie wäre Zeugin dieser geschichtlichen Anonymität gewesen, die nichts mit dem Mythos des einsamen Künstlers gemein hat.

Der Anonymität fehlt der ruhmvolle Fluchtpunkt des Genies.

Sie war der BLICK, der ihn, den Anonymen, in sich aufnahm vor hunderfünf / hundertzehn Jahren, ein Blick, der sich nicht befragen ließ. Denn wenn van Gogh anonym war, hatte sie ihn vergessen. Sie fasste die gesamte Zeitspanne von damals bis jetzt in EINEM Blick und – konnte nichts sagen.

Logfiles Zurück Weiter Goncourt's Flucht nach draußen

KONVENTIONEN

Man stelle sich einen Menschen in der Masse vor, der sich so gleichförmig in ihr bewegt, dass man in seiner Gegenwart den Eindruck hat, aus dem Zentrum der Masse verdrängt zu werden. Die eigentliche Konvention trägt ihre Dialektik in sich: in ihrer Vollendung, ihrer radikalen Verwechselbarkeit ist sie unverwechselbar. Man denke an Straßenbahnkontrolleure in Zivil: „so durchschnittlich, dass man sie nicht übersehen kann“ – was das heißt, weiß man, wenn man mit ihnen zu tun hat…

Die Masse Mensch dient bei Edgar Allen Poe und E.T.A. Hoffmann als Signum der Austauschbarkeit. Hoffmanns „Automate“ glänzt durch eine Reibungslosigkeit des Handelns, die als 'leblos' empfunden wird (wobei dieses Attribut oft an die Stelle von 'tot' tritt: es verweigert sich ebenso den POMPES FUNEBRES wie der Erkenntnis, dass, was tot ist, gelebt haben muß). Don Siegel’s „Body Snatcher's“ steht unter diesem Zeichen: die Menschen werden durch ihre geschliffensten Kopien ersetzt, und jene, die übrigbleiben, wissen das eigenartige Verhalten ihrer Freunde nicht recht zu beschreiben.

Nicht umsonst ist der Gangsterfilm ein geeignetes Spielfeld der Konvention, steht ihm doch hierfür die Metapher des tödlichen Schusses zur Verfügung: zum Gangster einer bestimmten Sorte Film gehört der graue Mantel, das Fehlen einer Identität, die Mechanik einer Geste und das Untertauchen in der Masse. Die kalkulierte 'Leblosigkeit' seines Verhaltens bedingt den Tod seines Opfers.

Was wäre nun, wenn man die Klischees beiseite ließe, auf eine Pointierung durch die Schusswaffe verzichtete und von der Darstellung der Konvention zu deren Verwirklichung überginge? Es hieße, die Konvention festzuschreiben, den Gangsterfilm seines Todes zu berauben.

Es hieße, einem Straßenbahnkontrolleur zu begegnen, dessen Anwesenheit deutlich zu spüren ist – wie die Des HErrn in den alten Schriften – ohne dass er jemandem die Karte abverlangte. Der Fahrgast stiege aus der Bahn, ein Stück lebloser als sonst, ohne dass er wüsste, warum.