Wikipedia und die Gültigkeit des Wissens

Zweifellos ist Wikipedia ein faszinierendes Projekt. Im Gegensatz zum klassischen enzyklopädischen Wissen, das aus seinen revolutionären Anfängen heraus in eine kaum hinterfragte Institution des Bürgertums mutierte, deren konkrete Autorschaft sich gottgleich unter einem Siegel des Schweigens verbarg, bietet dieses Projekt die Möglichkeit, die demokratische Aufbereitung eines diskutierbaren Wissens zu bieten.

Jeder kann Artikel schreiben, jeder kann jeden Artikel bearbeiten, jeder kann jede Bearbeitung wieder zurücknehmen. Man kann als anonymer Gast in das komplizierte Gefüge einer Kurzdarstellung der Neutronenbombe eingreifen und behaupten, ihr Brennstoff bestünde aus Sahne. Eine Redaktion beschränkt sich darauf, Schwachstellen mitzuteilen, in Diskussionen, die jederzeit mit einem Artikel verlinkt sind.

Einiges ist möglich:

Jede Änderung bleibt dokumentiert und umkehrbar, das ist das Wichtigste und auch das Merkwürdigste. Denn daß hier unter der Oberfläche genormter Formulierungen eine Diskussion stattfindet, die die definierten Begriffe doch verändert, sich zugleich jegliche Veränderung via Mausklick einfach streichen läßt, steht in einem seltsamen Widerspruch zueinander.

Hier erweist sich die Schwäche der Wikipedia:

Ihre Oberfläche, die sich sachlich gibt, apodiktisch wie nur das Wort der Enzyklopädisten, versiegelt am Schluß: als hätte es niemals irgendeine Skepsis gegeben bezüglich ’objektiven‘ Wissens, das sich als Stand der Dinge formuliert. Wikipedia entfacht eine Diskussion über die Gültigkeit des Wissens (niemand wird hier „in den Autoritäten“ nachschlagen können), zugleich aber verheimlicht sie diese. Autoren, die einander deutlich widersprechen, verschwinden im seriösen Fluss der Texte, die gleichsam von niemand zu stammen scheinen als von der Wissenschaft selbst. Wo es darum gehen müßte, Brüche offenzulegen, Auseinandersetzungen, Veränderungen, fügt sich alles in die Geschliffenheit gefaßten, definitorischen Stils.

Logfiles Zurück Weiter Goncourt's Flucht nach draußen

KONVENTIONEN

Man stelle sich einen Menschen in der Masse vor, der sich so gleichförmig in ihr bewegt, dass man in seiner Gegenwart den Eindruck hat, aus dem Zentrum der Masse verdrängt zu werden. Die eigentliche Konvention trägt ihre Dialektik in sich: in ihrer Vollendung, ihrer radikalen Verwechselbarkeit ist sie unverwechselbar. Man denke an Straßenbahnkontrolleure in Zivil: „so durchschnittlich, dass man sie nicht übersehen kann“ – was das heißt, weiß man, wenn man mit ihnen zu tun hat…

Die Masse Mensch dient bei Edgar Allen Poe und E.T.A. Hoffmann als Signum der Austauschbarkeit. Hoffmanns „Automate“ glänzt durch eine Reibungslosigkeit des Handelns, die als 'leblos' empfunden wird (wobei dieses Attribut oft an die Stelle von 'tot' tritt: es verweigert sich ebenso den POMPES FUNEBRES wie der Erkenntnis, dass, was tot ist, gelebt haben muß). Don Siegel’s „Body Snatcher's“ steht unter diesem Zeichen: die Menschen werden durch ihre geschliffensten Kopien ersetzt, und jene, die übrigbleiben, wissen das eigenartige Verhalten ihrer Freunde nicht recht zu beschreiben.

Nicht umsonst ist der Gangsterfilm ein geeignetes Spielfeld der Konvention, steht ihm doch hierfür die Metapher des tödlichen Schusses zur Verfügung: zum Gangster einer bestimmten Sorte Film gehört der graue Mantel, das Fehlen einer Identität, die Mechanik einer Geste und das Untertauchen in der Masse. Die kalkulierte 'Leblosigkeit' seines Verhaltens bedingt den Tod seines Opfers.

Was wäre nun, wenn man die Klischees beiseite ließe, auf eine Pointierung durch die Schusswaffe verzichtete und von der Darstellung der Konvention zu deren Verwirklichung überginge? Es hieße, die Konvention festzuschreiben, den Gangsterfilm seines Todes zu berauben.

Es hieße, einem Straßenbahnkontrolleur zu begegnen, dessen Anwesenheit deutlich zu spüren ist – wie die Des HErrn in den alten Schriften – ohne dass er jemandem die Karte abverlangte. Der Fahrgast stiege aus der Bahn, ein Stück lebloser als sonst, ohne dass er wüsste, warum.