Wikipedia und die Gültigkeit des Wissens
Zweifellos ist Wikipedia ein faszinierendes
Projekt. Im Gegensatz zum klassischen
enzyklopädischen Wissen, das aus seinen revolutionären Anfängen
heraus in eine kaum hinterfragte Institution des Bürgertums mutierte,
deren konkrete Autorschaft sich gottgleich unter einem Siegel des Schweigens
verbarg, bietet dieses Projekt die Möglichkeit, die demokratische Aufbereitung
eines diskutierbaren Wissens zu bieten.
Jeder kann Artikel schreiben, jeder kann jeden Artikel bearbeiten, jeder kann
jede Bearbeitung wieder zurücknehmen. Man kann als anonymer Gast in das
komplizierte Gefüge einer Kurzdarstellung der Neutronenbombe eingreifen
und behaupten, ihr Brennstoff bestünde aus Sahne. Eine Redaktion beschränkt
sich darauf, Schwachstellen mitzuteilen, in Diskussionen, die jederzeit mit
einem Artikel verlinkt sind.
Einiges ist möglich:
- daß Artikel über Themen verfaßt werden, die
sonst kaum in die Lexika gelangen.
- daß durch die einfache Setzung von Links Artikel erzeugt
werden können, deren Definitionen noch zu schreiben sind.
- daß man anhand der Qualität der Artikel, ihres Vorhandenseins,
der impliziten Wertungen wie der Assoziationen, anhand von Statistiken der
geschriebenen wie der nicht geschriebenen Artikel eine Bestandsaufnahme des
verbreiteten Wissens der Gesellschaft vornehmen kann.
Jede Änderung bleibt dokumentiert und umkehrbar, das ist das Wichtigste
und auch das Merkwürdigste. Denn daß hier unter der Oberfläche
genormter Formulierungen eine Diskussion stattfindet, die die definierten Begriffe
doch verändert, sich zugleich jegliche Veränderung via Mausklick
einfach streichen läßt, steht in einem seltsamen Widerspruch zueinander.
Hier erweist sich die Schwäche der Wikipedia:
Ihre Oberfläche, die sich sachlich gibt, apodiktisch wie nur das Wort
der Enzyklopädisten, versiegelt am Schluß: als hätte es niemals
irgendeine Skepsis gegeben bezüglich ’objektiven‘ Wissens, das sich als
Stand der Dinge formuliert. Wikipedia entfacht eine Diskussion über die
Gültigkeit des Wissens (niemand wird hier „in den Autoritäten“ nachschlagen
können), zugleich aber verheimlicht sie diese. Autoren, die einander deutlich
widersprechen, verschwinden im seriösen Fluss der Texte, die gleichsam
von niemand zu stammen scheinen als von der Wissenschaft selbst. Wo es darum
gehen müßte, Brüche offenzulegen, Auseinandersetzungen, Veränderungen,
fügt sich alles in die Geschliffenheit gefaßten, definitorischen
Stils.
KONVENTIONEN
Man stelle sich einen Menschen in der Masse
vor, der sich so gleichförmig in ihr bewegt, dass man in seiner Gegenwart
den Eindruck hat, aus dem Zentrum der Masse verdrängt zu werden. Die eigentliche
Konvention trägt ihre Dialektik in sich: in ihrer Vollendung, ihrer radikalen
Verwechselbarkeit ist sie unverwechselbar. Man denke an Straßenbahnkontrolleure
in Zivil: „so durchschnittlich, dass man sie nicht übersehen kann“
– was das heißt, weiß man, wenn man mit ihnen zu tun hat…
Die Masse Mensch dient bei Edgar Allen
Poe und E.T.A. Hoffmann als Signum
der Austauschbarkeit. Hoffmanns „Automate“ glänzt durch eine
Reibungslosigkeit des Handelns, die als 'leblos' empfunden wird (wobei dieses
Attribut oft an die Stelle von 'tot' tritt: es verweigert sich ebenso den POMPES
FUNEBRES wie der Erkenntnis, dass, was tot ist, gelebt haben muß). Don
Siegel’s „Body Snatcher's“ steht unter diesem Zeichen: die Menschen
werden durch ihre geschliffensten Kopien ersetzt, und jene, die übrigbleiben,
wissen das eigenartige Verhalten ihrer Freunde nicht recht zu beschreiben.
Nicht umsonst ist der Gangsterfilm ein geeignetes Spielfeld der Konvention,
steht ihm doch hierfür die Metapher des tödlichen Schusses zur Verfügung:
zum Gangster einer bestimmten Sorte Film gehört der graue Mantel, das Fehlen
einer Identität, die Mechanik einer Geste und das Untertauchen in der Masse.
Die kalkulierte 'Leblosigkeit' seines Verhaltens bedingt den Tod seines Opfers.
Was wäre nun, wenn man die Klischees beiseite
ließe, auf eine Pointierung durch die Schusswaffe verzichtete und von
der Darstellung der Konvention zu deren Verwirklichung überginge? Es hieße,
die Konvention festzuschreiben, den Gangsterfilm seines Todes zu berauben.
Es hieße, einem Straßenbahnkontrolleur zu begegnen, dessen Anwesenheit
deutlich zu spüren ist – wie die Des HErrn in den alten Schriften
– ohne dass er jemandem die Karte abverlangte. Der Fahrgast stiege aus
der Bahn, ein Stück lebloser als sonst, ohne dass er wüsste, warum.