Zu Peter Handke Jenseits der Dyade

Den großen Linguisten und Romanisten Harald Weinrich sah ich in einer Vorlesung, die im Fernsehen übertragen wurde. Worum es ging, weiß ich nicht mehr; ich hatte eine Nachtschicht hinter mir und lag im Bett: alles, was er sagte, schien mir logisch und schön. Mir gefiel der trockene Duktus seines Vortrags; er war elegant angezogen, blickte ruhig auf ein Blatt vor ihm, von dem er ablas. Die Art seines Auftretens wirkte keineswegs verklemmt – als sei ihm jener Seelenadel, seine britische Noblesse in überbordender Fülle in die Wiege gelegt worden, und nun operiere er in ihr mit der größtmöglichen Ökonomie. Sein Stil war schwungvoll und gelassen – seither vermute ich Abgründe in ihm, die die Vornehmheit seines Tweeds mit dem sicheren Gespür für die Komik der Dinge zu verbinden vermögen, als läge zwischen dem Ernst der Lage und deren Absurdität kaum eine Folie Papier– was die Selbstironisierung des verschachtelten Diskurses einer Koryphäe, eines Weinrich souverän mit einzuschließen vermag.

Einen seiner Aufsätze, „Über Sprache, Leib und Gedächtnis“, beginnt er mit dem Satz:
„Im Mittelpunkt der Sprache steht der Mensch.“

An dieser Stelle zupft er sich einen Staubfaden vom Stoff seiner Jacke: „Sätze wie dieser (…) sind für den professionellen Linguisten ein Ärgernis. Er sieht in ihnen nichts anderes als Indikatoren dafür, dass er sich nunmehr auf das Register der Erbaulichkeit einzustellen hat.“
Er geht zum Angriff über: „(…) zu diesem Zweck werde ich gleich zu Beginn den erbaulichkeitsgefährdeten Einleitungssatz in drei Methodenschritten so eingrenzen und verändern, dass er für eine weitere wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema operationalisierbar ist.“

Zum Goncourt-Projekt (oder das, was  davon schon besteht) SCHRITT EINS, INTERPOLATION DES SUBJEKTS

„Im Mittelpunkt der Sprache steht der Mensch in seiner Leiblichkeit.“

Es folgen einige bewundernswerte Ausführungen zum Begriff 'Leib’.

Zum Floss der Medusa SCHRITT ZWEI, EXTRAPOLATION DES SUBJEKTS

„Im Mittelpunkt der Sprache steht der menschliche Leib als Sitz der Kommunikationsorgane.“

Darauf Betrachtungen zum Begriff der 'Kommunikation’ – über die Mindest-Zweisamkeit dessen, was damit bezeichnet ist. An dieser Stelle gibt Weinrich, was er hat:

zum Philosophen SCHRITT DREI, EPISCHE VERFREMDUNG

„Wir orientieren uns in der Sprache primär an den leiblichen Bedingungen, wie sie sich aus dem Sitz der Kommunikationsorgane für die Blickstellung in der kommunikativen Dyade ergeben.“

Er schließt folgerichtig: „

  1. Dyadische Deixis
  2. Grenzen der Referenz
  3. Metonymien für den Leib.

Mit dem Gedächtnis haben alle drei Teile zu tun.“

Ich verneige mich vor diesem Herrn.

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KONVENTIONEN

Man stelle sich einen Menschen in der Masse vor, der sich so gleichförmig in ihr bewegt, dass man in seiner Gegenwart den Eindruck hat, aus dem Zentrum der Masse verdrängt zu werden. Die eigentliche Konvention trägt ihre Dialektik in sich: in ihrer Vollendung, ihrer radikalen Verwechselbarkeit ist sie unverwechselbar. Man denke an Straßenbahnkontrolleure in Zivil: „so durchschnittlich, dass man sie nicht übersehen kann“ – was das heißt, weiß man, wenn man mit ihnen zu tun hat…

Die Masse Mensch dient bei Edgar Allen Poe und E.T.A. Hoffmann als Signum der Austauschbarkeit. Hoffmanns „Automate“ glänzt durch eine Reibungslosigkeit des Handelns, die als 'leblos' empfunden wird (wobei dieses Attribut oft an die Stelle von 'tot' tritt: es verweigert sich ebenso den POMPES FUNEBRES wie der Erkenntnis, dass, was tot ist, gelebt haben muß). Don Siegel’s „Body Snatcher's“ steht unter diesem Zeichen: die Menschen werden durch ihre geschliffensten Kopien ersetzt, und jene, die übrigbleiben, wissen das eigenartige Verhalten ihrer Freunde nicht recht zu beschreiben.

Nicht umsonst ist der Gangsterfilm ein geeignetes Spielfeld der Konvention, steht ihm doch hierfür die Metapher des tödlichen Schusses zur Verfügung: zum Gangster einer bestimmten Sorte Film gehört der graue Mantel, das Fehlen einer Identität, die Mechanik einer Geste und das Untertauchen in der Masse. Die kalkulierte 'Leblosigkeit' seines Verhaltens bedingt den Tod seines Opfers.

Was wäre nun, wenn man die Klischees beiseite ließe, auf eine Pointierung durch die Schusswaffe verzichtete und von der Darstellung der Konvention zu deren Verwirklichung überginge? Es hieße, die Konvention festzuschreiben, den Gangsterfilm seines Todes zu berauben.

Es hieße, einem Straßenbahnkontrolleur zu begegnen, dessen Anwesenheit deutlich zu spüren ist – wie die Des HErrn in den alten Schriften – ohne dass er jemandem die Karte abverlangte. Der Fahrgast stiege aus der Bahn, ein Stück lebloser als sonst, ohne dass er wüsste, warum.