VOM WISSEN

Ich blätterte in den Bänden des „Meyerschen Taschenlexikons“, das wir vor einiger Zeit zum billigen Preis erstanden hatten; ich langweilte mich; mir wurde nicht gleich deutlich, was mich störte. Es mag das häßliche Cover gewesen sein, obwohl ich nicht zu den Lesern gehöre, die Lexika nur in gebundenen Ausgaben schätzen.

Viel unangenehmer jedoch erscheint mir jetzt folgender Umstand:

daß dieses Lexikon weder über die prägnante Wissenskonzeption einer Enzyklopädie noch über die Diskretion eines zweisprachigen Wörterbuchs verfügt. Immer noch gaukelt es eine „Wunderbare Welt des Wissens“ vor, ohne die Euphorie der Aufklärung mitzuliefern, ohne auch den eigenen, bisweilen bieder-liberalen Hintergrund auszuleuchten. Und es verfügt nicht über die Bescheidenheit des Übersetzers, der sich stets dessen bewußt bleibt, daß jede Definition zuviel den Bedeutungshöfen der Begriffe zu nahe tritt.

So kommt es zu solchen Blüten wie die, daß ein „Hochhaus“ mindestens zwölf Stockwerke haben müsse (und wieviele elfstöckige Gebäude haben wir schon gesehen, Edmond, die wir naiv als „Hochhäuser“ bezeichneten, aber wen interessiert das...).

Logfiles Zurück Weiter Goncourt's Flucht nach draußen

KONVENTIONEN

Man stelle sich einen Menschen in der Masse vor, der sich so gleichförmig in ihr bewegt, dass man in seiner Gegenwart den Eindruck hat, aus dem Zentrum der Masse verdrängt zu werden. Die eigentliche Konvention trägt ihre Dialektik in sich: in ihrer Vollendung, ihrer radikalen Verwechselbarkeit ist sie unverwechselbar. Man denke an Straßenbahnkontrolleure in Zivil: „so durchschnittlich, dass man sie nicht übersehen kann“ – was das heißt, weiß man, wenn man mit ihnen zu tun hat…

Die Masse Mensch dient bei Edgar Allen Poe und E.T.A. Hoffmann als Signum der Austauschbarkeit. Hoffmanns „Automate“ glänzt durch eine Reibungslosigkeit des Handelns, die als 'leblos' empfunden wird (wobei dieses Attribut oft an die Stelle von 'tot' tritt: es verweigert sich ebenso den POMPES FUNEBRES wie der Erkenntnis, dass, was tot ist, gelebt haben muß). Don Siegel’s „Body Snatcher's“ steht unter diesem Zeichen: die Menschen werden durch ihre geschliffensten Kopien ersetzt, und jene, die übrigbleiben, wissen das eigenartige Verhalten ihrer Freunde nicht recht zu beschreiben.

Nicht umsonst ist der Gangsterfilm ein geeignetes Spielfeld der Konvention, steht ihm doch hierfür die Metapher des tödlichen Schusses zur Verfügung: zum Gangster einer bestimmten Sorte Film gehört der graue Mantel, das Fehlen einer Identität, die Mechanik einer Geste und das Untertauchen in der Masse. Die kalkulierte 'Leblosigkeit' seines Verhaltens bedingt den Tod seines Opfers.

Was wäre nun, wenn man die Klischees beiseite ließe, auf eine Pointierung durch die Schusswaffe verzichtete und von der Darstellung der Konvention zu deren Verwirklichung überginge? Es hieße, die Konvention festzuschreiben, den Gangsterfilm seines Todes zu berauben.

Es hieße, einem Straßenbahnkontrolleur zu begegnen, dessen Anwesenheit deutlich zu spüren ist – wie die Des HErrn in den alten Schriften – ohne dass er jemandem die Karte abverlangte. Der Fahrgast stiege aus der Bahn, ein Stück lebloser als sonst, ohne dass er wüsste, warum.