Jenseits der Dyade
Den großen Linguisten und Romanisten Harald Weinrich sah ich in einer Vorlesung,
die im Fernsehen übertragen wurde. Worum es ging, weiß ich nicht mehr;
ich hatte eine Nachtschicht hinter mir und lag im Bett: alles, was er sagte, schien
mir logisch und schön. Mir gefiel der trockene Duktus seines Vortrags; er
war elegant angezogen, blickte ruhig auf ein Blatt vor ihm, von dem er ablas.
Die Art seines Auftretens wirkte keineswegs verklemmt – als sei ihm jener
Seelenadel, seine britische Noblesse in überbordender Fülle in die Wiege
gelegt worden, und nun operiere er in ihr mit der größtmöglichen
Ökonomie. Sein Stil war schwungvoll und gelassen – seither vermute
ich Abgründe in ihm, die die Vornehmheit seines Tweeds mit dem sicheren Gespür
für die Komik der Dinge zu verbinden vermögen, als läge zwischen
dem Ernst der Lage und deren Absurdität kaum eine Folie Papier– was
die Selbstironisierung des verschachtelten Diskurses einer Koryphäe, eines
Weinrich souverän mit einzuschließen vermag.
Einen seiner Aufsätze, „Über Sprache, Leib und Gedächtnis“,
beginnt er mit dem Satz:
„Im Mittelpunkt der Sprache steht der Mensch.“
An dieser Stelle zupft er sich einen Staubfaden vom Stoff seiner Jacke:
„Sätze wie dieser (…) sind für den professionellen Linguisten
ein Ärgernis. Er sieht in ihnen nichts anderes als Indikatoren dafür,
dass er sich nunmehr auf das Register der Erbaulichkeit einzustellen hat.“
Er geht zum Angriff über: „(…) zu diesem Zweck werde ich gleich
zu Beginn den erbaulichkeitsgefährdeten Einleitungssatz in drei Methodenschritten
so eingrenzen und verändern, dass er für eine weitere wissenschaftliche
Beschäftigung mit dem Thema operationalisierbar ist.“
SCHRITT EINS, INTERPOLATION DES SUBJEKTS
„Im Mittelpunkt der Sprache steht der Mensch in seiner Leiblichkeit.“
Es folgen einige bewundernswerte Ausführungen zum Begriff 'Leib’.
SCHRITT ZWEI, EXTRAPOLATION DES SUBJEKTS
„Im Mittelpunkt der
Sprache steht der menschliche Leib als Sitz der Kommunikationsorgane.“
Darauf Betrachtungen zum Begriff der 'Kommunikation’ – über die Mindest-Zweisamkeit
dessen, was damit bezeichnet ist. An dieser Stelle gibt Weinrich, was er hat:
SCHRITT DREI, EPISCHE VERFREMDUNG
„Wir orientieren uns in der Sprache primär an den leiblichen Bedingungen,
wie sie sich aus dem Sitz der Kommunikationsorgane für die Blickstellung in der
kommunikativen Dyade ergeben.“
Er schließt folgerichtig:
„
- Dyadische Deixis
- Grenzen der Referenz
- Metonymien für den Leib.
Mit dem Gedächtnis haben alle drei Teile zu tun.“
Ich verneige mich vor diesem Herrn.
SCHALTKREIS DES SATZES
SCHREIBE EINEN SATZ
Schreibe einen Satz, der alles zu erfassen vermag.
Verteile die Informationen einer Handlung so über die
Schnittstellen eines Satzes, dass sie dessen Schaltung bewirken, statt
ihn zu unterbrechen; dass sich die Bezeichnungen mit den Funktionen, die
sie bezeichnen, decken; dass sie VOLLSTÄNDIG im Satz enthalten sind
und ihm doch nicht im Wege - auf dass Du den Wald siehst und zugleich die
Bäume.
BESCHREIBE EINE BEWEGUNG
Beschreibe den komplexen Bewegungsablauf
eines Menschen nachts; dessen, der sich aus dem Bett erhebt; der einen Kühlschrank
öffnet, eine Wasserflasche herausnimmt, sie öffnet, an die Lippen
setzt, trinkt, absetzt, zuschraubt, wegstellt, sich setzt; und in die Gegend
stiert.
Erstelle einen Satz oder mehrere, die kurz sind; die den Bewegungsablauf enthalten:
als Information, zugleich als Rhythmus, als Syntax. Die die Bedeutung dieser
Bewegung: ihre Alltäglichkeit
darstellen und realisieren gleichermaßen: in einem Zuge: die die Minutiosität
der Betrachtung mit größter Schlichtheit in die Handlung fügen,
sie gleichsam aus der Peripherie hineinführen in das Zentrum des Satzes.
Das meint den Blick der Lupe mit dem des Panoramas zu verweben: die Schilderung
des Details mit der des übergreifenden Prozesses, die Informationen, je
nachdem, als Substantiv, Verb, Artikel, Präposition, Pronomen in den großen
Sprachstrom zu werfen, der sie gelassen schluckt, obgleich er selbst sich jederzeit
in ihnen auflösen müsste.
DIE GLIEDER EINES SATZES VERLINKEN
Sich bei einer glaubwürdigen Autorität darüber versichern, wie
oft man die Wörter 'dann', 'während', 'als', 'nachdem', 'darauf',
'wie', 'aber', 'doch', 'jedoch' innerhalb eines Absatzes, geschweige denn eines
Satzes gebrauchen darf. Die unüberwindliche Vokabel 'und'.