POESIE UND ALITALIA
Meine Vorstellung von Poesie ist wahrscheinlich eine resignative. Doch ist
eine solche Resignation, die wie eine hegelsche Geschichtsepoche ihr eigenes
Ende in sich trägt, keine fatalistische. Sie besteht im freimütigen
Anerkennen der Sinnlosigkeit, im Fortwerfen unnötiger Ballaste, damit in
einem Neuanfang.
Mein Bruder und ich brachten einen Freund zum Flughafen. Seine Eltern begleiteten
uns; als er hinter den Schranken verschwand, hofften sie, auf der Besucherterrasse
noch etwas von ihm sehen zu können. Gleichgültig, wie illusorisch
dies war: wir passierten eine Kabine, in der ein Beamter Eintritt verlangte.
Der schüchterne Vater fragte erstaunt: Zwei Mark fünfzig für
nur zwei Minuten? Ach was. — Wir gingen einfach an dem Beamten vorbei.
Ich beugte mich über die Brüstung und schaute auf einen Bus, aus welchem
die geladenen Passagiere ausstiegen: wie herbstliche Blätter fielen Geschäftsleute
heraus, mit flatternden Krawatten, in dunklen Farben.
Dann etwas, was veranschaulichen könnte, was ich oben meinte: während
in diesiger Ferne Flugzeuge über die Bahnen rollten und sich die Vorstellung,
irgendeinen Passagier noch erkennen zu können, bereits erledigt hatte,
stand ein großer, bullig gewachsener Mann am Geländer, ein Italiener
mit einem bunten Strickpullover und einer 'Repubblica'
unter dem Arm, der mir auf Anhieb sympathisch war, weil er, offenbar zärtlich
veranlagt, in ein Stofftaschentuch schluchzte, während er die 'Alitalia'
davongleiten sah. Dass er jenes abstrakte Bild der winzigen Maschinen und Lichter
noch in Verbindung mit den in ihnen Sitzenden brachte, dass ihn diese linierte
Weite traurig machte, ist Poesie.
LEGITIMATIONEN
Das Zimmer, das er bewohnt, mit den Dingen, die von ihm stammen, das Bett, in dem er schläft, der Schrank mit seinen
Kleidern und das Fenster, das ihm als Auge dient. Von den Büchern hat er jede Seite, Wort um
Wort gelesen; über alles hat er seine Hand streifen lassen, alles ist von ihm berührt, sortiert, gerichtet worden, an
einen Platz gestellt, für diesen Platz geschaffen.
Wenn er aber verschwindet?
Das Zimmer existiert weiter. Doch das, was es hätte erklären können, ist nicht mehr. Das Zimmer gerät zu einem
Schatten dessen, der ohne Abschied gegangen war. Die Bücher, vorher «Werke», sind nur noch Papier, das Fenster kein
Auge mehr, die Buchtungen im Bett absurd, denn worauf verweisen sie?
Ein neuer Mieter wird einziehen. Die Bücher wandern auf den Müll, das Bett, der Schrank werden folgen. Tapeten werden
abgerissen und durch neue ersetzt. Kein Zweifel: das Haus, in dem sich das Zimmer befindet, vermag die Lücke zu
schließen, die durch das Verschwinden des Vormieters entstanden war, es haftet dem aber etwas Ungehöriges an — kann es
sich noch irgend begründen ohne Erinnerung an den, der es bewohnt und zu dem gemacht hat, was es ist?
Das Vergessen, das sich über diese Wunde schließt, nimmt ihm einen Grund, überhaupt zu sein; Gespenstergeschichten
nehmen von hier ihren Ausgang.