Wikipedia und die Gültigkeit des Wissens
Zweifellos ist Wikipedia ein faszinierendes
Projekt. Im Gegensatz zum klassischen
enzyklopädischen Wissen, das aus seinen revolutionären Anfängen
heraus in eine kaum hinterfragte Institution des Bürgertums mutierte,
deren konkrete Autorschaft sich gottgleich unter einem Siegel des Schweigens
verbarg, bietet dieses Projekt die Möglichkeit, die demokratische Aufbereitung
eines diskutierbaren Wissens zu bieten.
Jeder kann Artikel schreiben, jeder kann jeden Artikel bearbeiten, jeder kann
jede Bearbeitung wieder zurücknehmen. Man kann als anonymer Gast in das
komplizierte Gefüge einer Kurzdarstellung der Neutronenbombe eingreifen
und behaupten, ihr Brennstoff bestünde aus Sahne. Eine Redaktion beschränkt
sich darauf, Schwachstellen mitzuteilen, in Diskussionen, die jederzeit mit
einem Artikel verlinkt sind.
Einiges ist möglich:
- daß Artikel über Themen verfaßt werden, die
sonst kaum in die Lexika gelangen.
- daß durch die einfache Setzung von Links Artikel erzeugt
werden können, deren Definitionen noch zu schreiben sind.
- daß man anhand der Qualität der Artikel, ihres Vorhandenseins,
der impliziten Wertungen wie der Assoziationen, anhand von Statistiken der
geschriebenen wie der nicht geschriebenen Artikel eine Bestandsaufnahme des
verbreiteten Wissens der Gesellschaft vornehmen kann.
Jede Änderung bleibt dokumentiert und umkehrbar, das ist das Wichtigste
und auch das Merkwürdigste. Denn daß hier unter der Oberfläche
genormter Formulierungen eine Diskussion stattfindet, die die definierten Begriffe
doch verändert, sich zugleich jegliche Veränderung via Mausklick
einfach streichen läßt, steht in einem seltsamen Widerspruch zueinander.
Hier erweist sich die Schwäche der Wikipedia:
Ihre Oberfläche, die sich sachlich gibt, apodiktisch wie nur das Wort
der Enzyklopädisten, versiegelt am Schluß: als hätte es niemals
irgendeine Skepsis gegeben bezüglich ’objektiven‘ Wissens, das sich als
Stand der Dinge formuliert. Wikipedia entfacht eine Diskussion über die
Gültigkeit des Wissens (niemand wird hier „in den Autoritäten“ nachschlagen
können), zugleich aber verheimlicht sie diese. Autoren, die einander deutlich
widersprechen, verschwinden im seriösen Fluss der Texte, die gleichsam
von niemand zu stammen scheinen als von der Wissenschaft selbst. Wo es darum
gehen müßte, Brüche offenzulegen, Auseinandersetzungen, Veränderungen,
fügt sich alles in die Geschliffenheit gefaßten, definitorischen
Stils.
LEGITIMATIONEN
Das Zimmer, das er bewohnt, mit den Dingen, die von ihm stammen, das Bett, in dem er schläft, der Schrank mit seinen
Kleidern und das Fenster, das ihm als Auge dient. Von den Büchern hat er jede Seite, Wort um
Wort gelesen; über alles hat er seine Hand streifen lassen, alles ist von ihm berührt, sortiert, gerichtet worden, an
einen Platz gestellt, für diesen Platz geschaffen.
Wenn er aber verschwindet?
Das Zimmer existiert weiter. Doch das, was es hätte erklären können, ist nicht mehr. Das Zimmer gerät zu einem
Schatten dessen, der ohne Abschied gegangen war. Die Bücher, vorher «Werke», sind nur noch Papier, das Fenster kein
Auge mehr, die Buchtungen im Bett absurd, denn worauf verweisen sie?
Ein neuer Mieter wird einziehen. Die Bücher wandern auf den Müll, das Bett, der Schrank werden folgen. Tapeten werden
abgerissen und durch neue ersetzt. Kein Zweifel: das Haus, in dem sich das Zimmer befindet, vermag die Lücke zu
schließen, die durch das Verschwinden des Vormieters entstanden war, es haftet dem aber etwas Ungehöriges an — kann es
sich noch irgend begründen ohne Erinnerung an den, der es bewohnt und zu dem gemacht hat, was es ist?
Das Vergessen, das sich über diese Wunde schließt, nimmt ihm einen Grund, überhaupt zu sein; Gespenstergeschichten
nehmen von hier ihren Ausgang.