La Tour aboli

  1. dem Transvestiten in Trani, der unrasiert in feuerrotem Kleid zwischen Rentnern flanierte, die Bahnhofsstraße aufwärts und abwärts. Er hatte Ähnlichkeit mit Prince: nicht in New York, sondern in Trani. Schmucke Bäume, normannische Kathedrale, alte Männer. Prince.
  2. der Toilettenfrau am Dortmunder Hauptbahnhof, die ein Rendezvous hatte, sie trug schon ihr schwarzes Kleid und balancierte auf Pfennigabsätzen, zog sich, für ein paar Handgriffe, die noch zu tätigen waren, Gummihandschuhe über, begann, nach kurzen Seufzern, zu schrubben.
  3. dem Vietnamesen in Paris, der mir, nachdem ich lange hatte suchen müssen, einen Gratis-Platz in der Herberge verschaffte. Ich schlief als einziger in dem Raum, der für sechs Personen gedacht war. Nachts öffnete sich die Tür, der Vietnamese legte sich auf ein Bett am anderen Ende des Raumes, blickte mich an, begann zu onanieren; nach einer Zeit hatte er sich — wie soll ich sagen — im Griff? nicht mehr im Griff?
  4. dem Amerikaner in einer Herberge in Amsterdam, der aus dem Bett geworfen wurde, denn er konnte nicht zahlen. Es war eine kalte Winternacht, er lag über mir, tags zuvor erzählte er, dass er kein Geld besäße; das Licht flammte auf, der Portier griff nach dem Jungen, ein kurzes Wortgefecht, bei dem der Junge den Kürzeren zog und hinaus in die Straßen lief.
  5. dem Nigerianer ebendort, der mich fragte, ob ich ihn mit nach Deutschland nähme. Mir war bewußt, dass, was ich ihm erzählte, keinen Pfennig wert war, ich wollte ihn loswerden, ich wußte genau, dass ich ihm nicht nur nicht helfen konnte, sondern nicht helfen wollte; ich erzählte ihm irgendwas von „Ausweis zeigen” und „Antrag stellen”, nun, ich hätte ihm nicht helfen können, ich wollte ihm nicht helfen. Heute, zehn Jahre später, verdirbt mir dies noch die utopischsten madeleines; ich konnte ihm nicht helfen, nein, ich wollte es nicht.

[Möglichkeiten der Traurigkeit, el desdichado, le veuve, l'inconsolé]

Logfiles Zurück Weiter Goncourt's Flucht nach draußen

FRANZOSEN...

EDMOND
Wenn ich, einen Text mir vorlesend, auf Stellen stoße, an denen meine Zunge strauchelt, weil sie nicht weiß, wie sie die variablen Konsonanten, Vokale verschluckend, zu einem Satzbogen formen soll, frage ich mich ungläubig, ob der Autor, beim Aufziehen seines kleinen stilistischen Uhrwerks, die Wörter tatsächlich so verlinkt hat, dass ein Franzose sie mit Leichtigkeit bewältigen kann. Bei Valéry immerhin oder Mallarmé müsste man sich dessen sicher sein, nicht wahr, Jules?

JULES
Was, wenn nicht 'Stil' den Ausschlag zu seiner Formulierung gab? Wenn ein Wort zwingend hart auf ein andres folgen muss, aus Gründen des Inhalts, nicht der Form? — Obschon es merkwürdig, holprig, in gewisser Weise 'unfranzösisch' klingt (und sei es nur in den Ohren Jemandes mit dem Abschluß der Ecole supérieure normale).

EDMOND
Würde ein französischer Stilist je einen 'unfranzösischen' Satz schreiben können?

JULES
Frag Gustave.
Aber denkst Du nicht, dass die Wörter nicht ohnehin so beschaffen sind, wie sie sich — nach herkömmlichem (richtigem?) Gebrauch — genuin in die Sätze fügen? Dass nicht die Bewegung der Zunge [langue] durch die Wörter, sondern die Wörter durch die Bewegung der Zunge [langage] sich haben prägen lassen — dass sie im Lauf von Jahrhunderten nicht nur verschliffen, sondern aus den Artikulationen überhaupt aufgefangen wurden, woraus sie dann ihre Definitionen erhielten? So ließe sich jedes Wort als pars pro toto seiner Vermarktung betrachten, nicht wahr, Edmond.

EDMOND
Dass Du alles so weltlich siehst, Jules.