Wikipedia und die Gültigkeit des Wissens

Zweifellos ist Wikipedia ein faszinierendes Projekt. Im Gegensatz zum klassischen enzyklopädischen Wissen, das aus seinen revolutionären Anfängen heraus in eine kaum hinterfragte Institution des Bürgertums mutierte, deren konkrete Autorschaft sich gottgleich unter einem Siegel des Schweigens verbarg, bietet dieses Projekt die Möglichkeit, die demokratische Aufbereitung eines diskutierbaren Wissens zu bieten.

Jeder kann Artikel schreiben, jeder kann jeden Artikel bearbeiten, jeder kann jede Bearbeitung wieder zurücknehmen. Man kann als anonymer Gast in das komplizierte Gefüge einer Kurzdarstellung der Neutronenbombe eingreifen und behaupten, ihr Brennstoff bestünde aus Sahne. Eine Redaktion beschränkt sich darauf, Schwachstellen mitzuteilen, in Diskussionen, die jederzeit mit einem Artikel verlinkt sind.

Einiges ist möglich:

Jede Änderung bleibt dokumentiert und umkehrbar, das ist das Wichtigste und auch das Merkwürdigste. Denn daß hier unter der Oberfläche genormter Formulierungen eine Diskussion stattfindet, die die definierten Begriffe doch verändert, sich zugleich jegliche Veränderung via Mausklick einfach streichen läßt, steht in einem seltsamen Widerspruch zueinander.

Hier erweist sich die Schwäche der Wikipedia:

Ihre Oberfläche, die sich sachlich gibt, apodiktisch wie nur das Wort der Enzyklopädisten, versiegelt am Schluß: als hätte es niemals irgendeine Skepsis gegeben bezüglich ’objektiven‘ Wissens, das sich als Stand der Dinge formuliert. Wikipedia entfacht eine Diskussion über die Gültigkeit des Wissens (niemand wird hier „in den Autoritäten“ nachschlagen können), zugleich aber verheimlicht sie diese. Autoren, die einander deutlich widersprechen, verschwinden im seriösen Fluss der Texte, die gleichsam von niemand zu stammen scheinen als von der Wissenschaft selbst. Wo es darum gehen müßte, Brüche offenzulegen, Auseinandersetzungen, Veränderungen, fügt sich alles in die Geschliffenheit gefaßten, definitorischen Stils.

Logfiles Zurück Weiter Goncourt's Flucht nach draußen

FRANZOSEN...

EDMOND
Wenn ich, einen Text mir vorlesend, auf Stellen stoße, an denen meine Zunge strauchelt, weil sie nicht weiß, wie sie die variablen Konsonanten, Vokale verschluckend, zu einem Satzbogen formen soll, frage ich mich ungläubig, ob der Autor, beim Aufziehen seines kleinen stilistischen Uhrwerks, die Wörter tatsächlich so verlinkt hat, dass ein Franzose sie mit Leichtigkeit bewältigen kann. Bei Valéry immerhin oder Mallarmé müsste man sich dessen sicher sein, nicht wahr, Jules?

JULES
Was, wenn nicht 'Stil' den Ausschlag zu seiner Formulierung gab? Wenn ein Wort zwingend hart auf ein andres folgen muss, aus Gründen des Inhalts, nicht der Form? — Obschon es merkwürdig, holprig, in gewisser Weise 'unfranzösisch' klingt (und sei es nur in den Ohren Jemandes mit dem Abschluß der Ecole supérieure normale).

EDMOND
Würde ein französischer Stilist je einen 'unfranzösischen' Satz schreiben können?

JULES
Frag Gustave.
Aber denkst Du nicht, dass die Wörter nicht ohnehin so beschaffen sind, wie sie sich — nach herkömmlichem (richtigem?) Gebrauch — genuin in die Sätze fügen? Dass nicht die Bewegung der Zunge [langue] durch die Wörter, sondern die Wörter durch die Bewegung der Zunge [langage] sich haben prägen lassen — dass sie im Lauf von Jahrhunderten nicht nur verschliffen, sondern aus den Artikulationen überhaupt aufgefangen wurden, woraus sie dann ihre Definitionen erhielten? So ließe sich jedes Wort als pars pro toto seiner Vermarktung betrachten, nicht wahr, Edmond.

EDMOND
Dass Du alles so weltlich siehst, Jules.