VERSUCH ÜBER
DIE VERLESUNG DES WETTERS
Die Wetternachrichten, die der Sprecher am Abend
liest, behalten einen Tag, vielleicht eine Woche Geltung; in diesem Zeitraum
erweist sich ihr Wert darin, ob sie sich erfüllen, ob sie das Abbildungsverhältnis
zu einer noch nicht vollzogenen Witterung werden einhalten können, gemäß
den Formeln, aus denen sie bestehen: ob die Formeln in ihrer Knappheit, ihrer
rein technischen Unterordnung einem Geschehen beikommen, welches kosmische Ausmaße
kennt - zumindest soweit dies dem pragmatischen Verhältnis des Publikums
dazu entgegenkommt.
Je knapper, je unverwechselbarer die beschreibende
Wendung, desto verifizierbarer wird sie, ohne der Illusion zu erliegen, es mit
einer Wolke, einem Sturm, einer aufschlagenden Woge aufzunehmen. Chaos verrichtet
das Wetter: die Sprache muß übersichtlich sein, muß sich beschränken,
an einige Stellen Konturen zu setzen, an anderen zu lassen. Keine Wetternachricht,
umgrenzt auf den Raum von fünf Minuten, hält es mit der Ewigkeit;
warum also sollte sie sich nicht auf die geradlinigste Skizze beschränken,
die die Weltläufte anstreift, wo sie sie benötigt.
Warum sollte sie impressionistische Umschreibungen
zulassen, die die Zuschauer mit dem Wetter versöhnen - ist nicht das Wetter
selbst schon kompliziert genug, als daß man es auf die Sprachspiele der
Berufspendler, der Bauern, der Wanderburschen, der manisch-depressiven Morgenmagazin-Klientel
reduzieren sollte?
Und warum sollte ich mich, unter der Klammer
einer anstehenden Bö, vom Moderator besänftigen lassen: weshalb adressiert
er seine Floskeln an mich mit dem Rest der Gesellschaft zusammen? Genügt
das trostlose Dasein eines gelangweilten Wetterfroschs, eine Billigkraft mit
derselben verschwörerischen Miene anzuzwinkern wie den Verwaltungsdirektor
mit gleichem Paß? Genügt schon die bornierte Einfachheit einer Wolke,
um die Brüche der Geschichte, der Gesellschaft, in den Klippen der Naturgewalt
verklingen zu lassen?
FRANZOSEN...
EDMOND
Wenn ich, einen Text mir vorlesend, auf Stellen stoße, an denen meine Zunge strauchelt, weil sie
nicht weiß, wie sie die variablen Konsonanten, Vokale verschluckend, zu
einem Satzbogen formen soll, frage ich mich ungläubig, ob der Autor, beim
Aufziehen seines kleinen stilistischen Uhrwerks, die Wörter tatsächlich
so verlinkt hat, dass ein Franzose sie mit Leichtigkeit bewältigen kann.
Bei Valéry immerhin oder Mallarmé müsste man sich dessen
sicher sein, nicht wahr, Jules?
JULES
Was, wenn nicht 'Stil' den Ausschlag zu seiner Formulierung gab? Wenn ein Wort zwingend hart auf ein
andres folgen muss, aus Gründen des Inhalts, nicht der Form? — Obschon
es merkwürdig, holprig, in gewisser Weise 'unfranzösisch' klingt (und
sei es nur in den Ohren Jemandes mit dem Abschluß der Ecole supérieure
normale).
EDMOND
Würde ein französischer Stilist je einen 'unfranzösischen' Satz schreiben können?
JULES
Frag Gustave.
Aber denkst Du nicht, dass die Wörter nicht ohnehin so beschaffen sind,
wie sie sich — nach herkömmlichem (richtigem?) Gebrauch — genuin
in die Sätze fügen? Dass nicht die Bewegung der Zunge [langue] durch
die Wörter, sondern die Wörter durch die Bewegung der Zunge [langage]
sich haben prägen lassen — dass sie im Lauf von Jahrhunderten nicht
nur verschliffen, sondern aus den Artikulationen überhaupt aufgefangen
wurden, woraus sie dann ihre Definitionen erhielten? So ließe sich jedes
Wort als pars pro toto seiner Vermarktung
betrachten, nicht wahr, Edmond.
EDMOND
Dass Du alles so weltlich siehst, Jules.